Franz Nono Schreiner
Die Pietà
Felix war ein Steinmetz. Seine Arbeiten beschränkten sich aber nicht auf Fenster- und Türstöcke, raffinierte Wendeltreppen oder auch einmal auf fein ausschwingende Gewölberippen; da gab es auch noch seine zahllosen Heiligenfiguren, die in der gesamten Region zu finden waren, und die ob ihrer Harmonie und Schlichtheit allgemein gerühmt wurden.
So war es nicht zu verwundern, dass der Abt des in einem Seitental gelegenen Klosters sich an Felix wandte, um für die Weggabelung vor dem Kloster ein Kruzifix in Auftrag zu geben. Erst wollte Felix den hochwürdigsten Herrn Abt umstimmen, dass er diese Aufgabe doch einem der zahlreichen Schnitzer übertragen solle, aber dieser ließ sich nicht abwimmeln: nein, es müsse ein in Sandstein gehauenes Kruzifix sein.
„Aber Euer Gnaden,“ versuchte es Felix erneut „Exzellenz, warum denn ein Kruzifix?“
„Warum keines?“ war die knappe Gegenfrage des Geistlichen.
„Weil …“ Felix stockte kurz, „weil ich den Herrn so nicht darstellen kann. Ich haue Ihnen die lieblichste Mutter Gottes aus dem erbärmlichsten Granit heraus, wenn Sie es wünschen, den felsenfestesten Petrus aus dem weichsten Sandstein, alles, was Euer Gnaden sich vorstellen wollen, aber bitte – bitte keinen Gekreuzigten.“
„Aber gerade der Gekreuzigte ist es, zu dem wir aufschauen, der uns durch seinen Tod allesamt erlöst und freigekauft hat.“ erwiderte der Abt.
„Ja, ja ich weiß. Aber ...“ aufs neue stockte Felix, suchte seinen Gedanken Ordnung und die richtigen Worte zu geben, ehe er seine Erklärungen dem hohen Würdenträger vortrug: „Gekreuzigt werden, ist ein gar schlimmer Tod. Eigentlich war es die schlimmste Schande, die man unserem Herrn damit antun konnte. Und beim Herrn Jesus ist das die hässlichste, erbärmlichste Grimasse, die falsches Recht je der Menschheit gezeigt hat.“
„Mein Sohn,“ entgegnete der Mann Gottes, „du stellst ja nicht die Hohen Priester dar, die das Gesetz beugten, sondern den Sohn Gottes, der die Schuld der Welt damit ein für alle Mal gesühnt hat.“
„Ja, ja, Euer Gnaden,“ feilschte Felix weiter, „den Sohn Gottes will ich schon darstellen, aber nicht das Unrecht, das ihm widerfahren ist. Von mir aus“ hier wurde Felix auch im Tonfall etwas herrischer und zuversichtlicher, „von mir aus hätte der Heiland diesen Prozess umdrehen sollen und hätte bei Pilatus einmal so richtig auspacken müssen, wie dieses Gesindel ihm stets übel mitgespielt hat. Das wäre ein Spektakel geworden und die hohen Herren hätten mit ihren Anschuldigungen schön schnell den Rückzug antreten müssen.“
„Ja, von dir aus, lieber Felix, wäre das sicherlich ein 'Spektakel' geworden. Und du hättest ja recht gehabt, weil du ja auch nicht wissen hättest können, dass sie ja nur den Leib Jesu ans Kreuz nageln konnten, dass er selbst aber, als Sohn Gottes, unsterblich war und ist, so wie wir alle.“
„Wir alle?“ entfuhr es Felix.
„Ja sicher. Jesus hat uns seine Brüder genannt und so sind auch wir unsterblich.“
Felix schwieg. Es war so ein Moment, wo es in ihm dachte. Seine Gedanken flogen in die Unendlichkeit, kehrten zum Kreuz zurück, schwangen sich auf und warfen einen Blick auf dieses Irdische mit all seinen Mühsalen und Leiden und verweilten schließlich beim Bild der Mutter Jesu, wie sie ihren Sohn nach der Kreuzabnahme in Armen hält.
„Du, Herr Abt,“ Felix vergaß vollkommen jede Förmlichkeit, so überwältigt war er von seinem Bild, „und die Mutter Jesu, die heilige Maria, die hat das wohl auch gewusst.“
„Ob sie das gewusst hat? - Ich kann dir das nicht beantworten.“ erwiderte aufrichtig der Geistliche.
„Doch, sie hat das auch gewusst. Ich weiß es. Denn als sie den Leichnam Jesu ihr in den Schoß gelegt haben, - keine Mutter hätte das ertragen können! Sie aber hat gewusst, sie hält hier nur den von ihrem Sohn verlassenen Körper. Wie ein Andenken.“
„Vielleicht hast du Recht, Felix?“
„Herr Abt,“ Felix wandte sich erfüllt von kindlichem Vertrauen an seinen Auftraggeber, „deinen Gekreuzigten kann ich dir auch nicht aus dem edelsten Marmor heraushauen, aber die Mutter Gottes, wie sie den Leib ihres toten Sohnes im Schoße hält, die soll mein Meißel aus jedem Stein, den du mir geben willst, herauszaubern.“
Der Abt schwieg eine kurze Weile, sah in die Ferne, dann wieder auf den kleinen, aber kräftigen Felix mit seinen derben und zerschundenen Händen, und wie er mit Kinderaugen zu ihm aufblickte: „Mein Sohn, ihr Steinmetzen wisst doch mehr als wir Geistlichen.“
„Nein, nein!“ protestierte Felix „Das tun wir bestimmt nicht, aber unser Inneres schaut vielleicht manchmal Dinge, die ihr mit eurem Wissen nicht erfassen könnt.“
„ Wird wohl so sein.“ gab der Abt zu und fügte nach einer Weile hinzu. „Ja, ja. Dein Inneres hat da wohl was gar Schönes geschaut.“
Felix nickte und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. „Gell, eine Mutter Gottes mit ihrem Sohn, mit dem bist du auch zufrieden.“
Der Abt nickte bedächtig.
Felix streckte seine Rechte dem alten Herrn entgegen als Zeichen, dass sie nun Handels eins geworden waren. Und so entstand vor den Toren des altehrwürdigen Klosters eine Pietà, die trotz aller Trauer, die allein den meisten anderen Darstellungen dieser Art innewohnt, so viel Lieblichkeit und Innigkeit ausstrahlte, dass sie bald als die „liebliche Mutter der Tränen“ genannt wurde. Und jeder, der das Kloster aufsuchte und dabei an diesem Meisterwerk vorbeikam, nahm diese tiefere Liebe, die diesen Stein zu beseelen schien, mit in das Kloster, das selbst wiederum dadurch ein noch reichlicher sprudelnder Quell der Betrachtung und Einkehr wurde.